Psychologische Experimente haben ergeben: Wenn ein Mensch die Möglichkeit hat, zwischen zwei Optionen, die beide negative Auswirkungen auf sein Leben haben, zu wählen, dann wird er sich in den meisten Fällen für die Option entscheiden, die keine Aktivität erfordert. Die Teilmobilisierung sorgte in Russland für einen kurzen Schockmoment. Leider nur unter wenigen. Die Mehrheit unterstützt weiterhin den Krieg. Einblick in die Gedankenwelt meiner Freund:innen in Russland.

Meine ehemalige Deutschlehrerkollegin Ira (43), aktuell in Moskau, persönliche Nachricht:
Janotschka, ich habe eine Bitte, aber das muss absolut unter uns bleiben! Diese ganze schreckliche Situation… Hast du noch irgendwelche Bekannten in Serbien, die uns mit Wohnung, Registrierung weiterhelfen könnten? Wir haben ja absolut keine Ahnung. Wir würden erst mal Sergej vorschicken und ich komme dann mit Kind nach.
etwas später: Janotschka, es tut mir leid. Ich hab Angst, dass wir das finanziell nicht schaffen. Einen Monat, zwei kriegen wir das vielleicht hin, aber danach? Sollen wir dann etwa zurückkehren? Trotzdem danke für deine Hilfe!
Tanja (39), aus Stavropol, ausgebildete Juristin, zeichnet und malt, zurzeit Hausfrau und Mutter, teilt in unserer Chatgruppe Beobachtungen aus ihrem Alltag:
„Tanja, ich hab einen Kredit über 75.000 aufgenommen. Den Mann für die Front ausstatten.“
„Wieso hast du das gemacht?“
„Wurde uns so gesagt.“
„Denkst du wirklich, dass sie ihn in Unterhosen an die Front geschickt hätten, wenn du ihn nicht ausgerüstet hättest?“
„Ich weiß nicht.“
„Sag mal, wolltest du nie herausfinden, wie das ist, wenn man etwas nicht so macht, wie dir gesagt wurde.?
„Das… macht mir Angst.“
„Und den Mann zu verlieren, allein mit Kredit, und Kindern – das macht dir keine Angst?“
„Ich… ich, das schaff ich schon.“ (weint)
Katja (31), Stavropol, ausgebildete Geschichtslehrerin, arbeitslos, alleinerziehend, lebt mit Tochter und Mutter zusammen, Sprachnachricht:
Janotschka, ich hab die ganze Zeit an deine Jungs gedacht. Aber ich konnte ihnen einfach nicht zum Geburtstag gratulieren. Ich schäme mich. Ich liege tagelang im Bett und rede mit niemandem. Nachts zittern meine Beine.
Wenn ich an diese Babuschkas vom Markt denke: „Also Amerika darf das und wir dürfen das nicht oder was?“ – „Wann holt Putin endlich die Atomwaffen raus und zeigt es ihnen so richtig! Der soll es dem Westen so richtig zeigen!“
Die Bevölkerung ist so dumm! Übernimm doch erst mal die Verantwortung für dich selbst! Was hat Amerika damit zu tun? Kümmer dich um dein Land! Den Idioten geht es gut, die nehmen keine Antidepressiva. Die Menschheit steht an der Schwelle zum Aussterben und sie lächeln einfach.
Anja (25), Stavropol, ausgebildete Journalistin, arbeitet als Verkäuferin, Sprachnachricht:
Vitja und ich wollen Ende des Monats ausreisen. Wenn wir unsere Reisepässe rechtzeitig bekommen und es nicht schon zu spät ist. Armenien, Georgien. Egal. Für Vitja wird es schwer sein, seinen Buchladen aufzugeben. Ist ja quasi sein Baby. Es ist so verrückt, ich stehe den ganzen Tag im Second-Hand-Laden und die Leute kaufen da einfach Klamotten, probieren an und kaufen, kaufen einfach Klamotten! Ich versteh es nicht. Es ist schrecklich!
Artjom (um die 30), mein Musiklehrer aus Kazan, Sprachnachricht:
Ich bin mittlerweile in der Türkei. Ich konnte nicht mehr. Ich bin doch Musiker, Künstler! Ich verstehe unsere Politiker nicht, wo ist deren Menschlichkeit? Ja, ich liebe meine Heimat, meinen Beruf, ich hatte eine tolle Stelle als Konzertdirektor mit einem sehr guten Gehalt. Aber das wiegt doch all den Schrecken nicht auf! Ich würde niemals eine Waffe in die Hand nehmen, ich will kein Blut an meinen Händen! Ich hab mein Bajan mitgenommen, das Akkordeon hätt ich nicht geschafft. Ich werd schon irgendwie Schüler hier finden. Um meinen Bruder in Russland hab ich Angst.
Julia (43), Moskau, arbeitet im IT-Bereich, macht auch Stand-up-Comedy, persönliche Nachricht:
Ja, hab mich lange nicht gemeldet… Schön, dass du ausgerechnet heute schreibst. Ich habe heute einen kleinen Jungen geboren! Die politische Situation macht uns natürlich zu schaffen, aber wir bleiben erst mal hier. Die Geburt des kleinen Mannes überstrahlt gerade alles: Pascha und ich sind zum allerersten Mal Eltern geworden!
